Harfe spielender Engel aus einer Geburt-Christi-Darstellung

Harfe spielender Engel aus einer Geburt-Christi-Darstellung - Sculpture avec restes de polychrome

Lot n° 348

Kalkstein. 22,8cm × 27cm × 10 cm (ohne Sockel)     
Reste polychromer Fassung. [3010]
Provenienz: Schloss- und Kollegiatskirche Saint-Maxe in Bar-le-Duc, Meuse (bis 1792) ? / Privatsammlung, Rheinland-Pfalz (1976 in der Black-Nadeau Gallery, Monte-Carlo, Monaco, erworben)

Erratum/Addendum: Es muss darauf hingewiesen werden, dass eine Steinanalyse erforderlich ist, um letzte Gewissheit zu erlangen, ob das Objekt aus der Schloss- und Kollegiatskirche Saint-Maxe in Bar-le-Duc, Meuse stammt.

Der auf dem Boden hockende, mit einem ärmellosen Peplos bekleidete Engel greift mit der Rechten in die Saiten einer Harfe, mit leicht vorgeneigtem Kopf scheint er konzentriert den Tönen zu lauschen. Sein von quirligen Locken gerahmtes Gesicht strahlt einen besonderen Liebreiz aus. Das Figürchen war Teil eines tief ausgearbeiteten Reliefs, das links mit der Kontur von Gewand und Flügeln abschloss, sich aber oben und rechts weiter fortsetzte. Von der Thematik her dürfte der Engel aus einer Darstellung der Geburt Christi stammen.
Bei dem Bildwerk handelt es sich um ein besonders qualitätvolles Zeugnis der durch italienische Renaissancekünstler geprägten Stilauffassung, die in Frankreich seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Verbreitung fand. Die Engelsfigur ist wahrscheinlich um 1550 in den damals noch nicht zur französischen Krone gehörigen Herzogtümern Lothringen und Bar entstanden und lässt sich dort dem überragenden Hofbildhauer Ligier Richier zuschreiben, dessen bekanntestes Werk die Darstellung des Prinzen René de Chalon als Skelett an der Grabstätte seines Herzens in Saint-Etienne in Bar-le-Duc ist. Wenn es um unmittelbare künstlerische Voraussetzungen für Richier geht, ist vor allem auf Arbeiten in Frankreich tätiger Italiener wie der Brüder Antoine und Jean Juste hin gewiesen worden, die das Grabmal für König Ludwig XII. und dessen Gemahlin Anne de Bretagne in der Abteikirche von Saint-Denis schufen. Prägende Orte für Richier, an denen eine italienisch inspirierte Stilauffassung dominierte, waren zum Beispiel das Schloss von Gaillon in der Normandie und vor allem das große Schlossprojekt der Könige Franz I. und Heinrich II. in Fontainebleau. Nach Fontainebleau beriefen die Maler Rosso Fiorentino und Francesco Primaticcio unter anderem den Florentiner Bildhauer Domenico del Barbieri, der auch in der Champagne, in Troyes, bedeutende Zeugnisse hinterließ.
Die Zuschreibung des Harfe spielenden Engels an Richier stützt sich zunächst auf den Vergleich mit dem Engel in der großfigurigen Grablegung Christi in der Kirche Saint-Etienne in Saint-Mihiel an der Maas, einem weiteren Hauptwerk des Künstlers. Dort entdeckt man neben Übereinstimmungen in Gesichtstypus und Locken insbesondere eine ähnlich geschmeidige Faltengebung des Peplos und eine nahezu identische Federstruktur am sichtbaren Flügel. Eine noch nähere Verwandtschaft scheint zu zwei fliegenden Engeln im Louvre zu bestehen, die – 31,3 bzw. 37,3 cm hoch – in der Größe dem Harfenspieler vergleichbar sind. Die Engel im Louvre besaßen ursprünglich ebenfalls einen flachen Reliefgrund und sollen aus der Schloss- und Kollegiatskirche Saint-Maxe in Bar-le-Duc herrühren, die 1792 zum Abriss freigegeben wurde. Nach Quellen des 18. Jahrhunderts gab es in der dortigen Chapelle des Princes mehrere Skulpturen Richiers. 
Die Engel im Louvre gelten heute eindeutig als Werke von Richier. Angesichts der stilistischen Nähe zueinander ist die Frage berechtigt, ob der Engel mit der Harfe und die beiden fliegenden Engel in Paris, die allesamt Polychromierungsreste aufweisen, aus demselben Zusammenhang stammen können. Hier wäre allerdings zunächst eine Steinanalyse erforderlich. Anknüpfungspunkte ergeben sich auch von der Überlieferung her, denn in der Chapelle des Princes befanden sich von der Hand Richiers die Darstellungen der Verkündigung an Maria und der Geburt Christi sowie eine Kreuzigungsgruppe. Mit der Geburtsszene ist ein ebenfalls im Louvre aufbewahrter Christusknabe (Inv.-Nr. ML 147) in Verbindung zu bringen. In den Quellen heißt es, dass die Bildwerke Richiers in der Kapelle einer speziellen Oberflächenbehandlung, vielleicht in Enkaustik-Technik, unterzogen wurden, so dass sie wie aus Marmor geschaffen glänzten. Tatsächlich ist an dem Jesuskind eine frühere Wachsbeschichtung nachweisbar. Ob dies allerdings für den gesamten bildnerischen Dekor oder nur für die Hauptfiguren galt, bleibt noch zu klären. 

Hartmut Krohm, ehemaliger stellvertretender Direktor der Skulpturensammlung und des Museums für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin

Vergleichsliteratur: Paul Denis: Ligier Richier. L’artiste et son œuvre. Paris und Nancy, 1911 / Ligier Richier et la sculpture en Lorraine au XVIe siècle, bearb. von Paulette Choné. Ausst.-Kat., Bar-le-Duc, 1985 / Jean-René Gaborit (Hg.): Sculpture française. II, Renaissance et Temps Modernes. Paris, 1998, Bd. 2, S. 567 / Noëlle Cazin und Marie-Agnès Sonrier (Hg.): Ligier Richier. Un sculpteur lorrain de la Renaissance. Nancy, 2008